Der Moment der Wahrheit – ein Thema, das mich schon seit Längerem beschäftigt. Dabei geht es um die Art und Weise, wie heutzutage Interessenten zu ihrem Wunschobjekt der Begierde kommen, sprich: Das grobe Abbild des Kaufprozesses im Automobilhandel. Ganz besonders hier scheint sich nur sehr rudimentär herumgesprochen zu haben, was sich da seit Verbreitung des Internets verändert hat und vor welchen Herausforderungen man als letztes Glied in der Kette, als Autohaus, steht. Zwar wird branchenweit über den Einfluss des Internets sinniert, aber ganz ehrlich: Wenn ich mir in der Breite der deutschen Autohandelslandschaft ansehe, wie ziel-, strategie- und planlos da agiert wird, kann ich nur den Kopf schütteln.

Auslöser für diesen Artikel hier ist der HB ohne Filter vom 21.03.2014 von AUTOHAUS-Herausgeber Hannes Brachat. Er fasst dort u. a. die Ergebnisse des kurz zuvor stattgefundenen 10. puls-Automobilkongresses zusammen und stellt dabei in Punkt 19 fest: „Unterscheide den First und den Second Moment of Truth“. Für eine Veranstaltung mit dem Leitthema „Autokäufer, Automobilverkauf und Servicegeschäft 3.0“ („und 3.0 meint, dass der Autokäufer heute feingliedrige Webinhalte in Form von Bewertungen, Qualitätskriterien, Ortsangabe u.a. erhält “ – Zitat H. Brachat), an der u. a. auch Verantwortliche des Automotive-Bereichs von Google teilgenommen hat, finde ich es enttäuschend, dass in Bezug auf die Momente der Wahrheit offenbar versäumt wurde, in den längst schon geltenden vier Stufen zu debattieren.

Die Augenblicke der Wahrheit entstehen immer dann, wenn Anbieter (=Autohaus) und Interessent/Kunde aufeinandertreffen. Das kann real, also im echten leben sein, aber auch virtuell, also im Internet.

Am Anfang steht der Reiz

Der sogenannte Stimulus und die bereits oben zitierten Momente der Wahrheit bilden den Grobablauf des (nicht nur) automobilen Kaufprozesses.
Beispiel: Ein Hersteller lanciert ein neues Modell. Um die potenziellen Zielgruppen darüber zu informieren und das Ganze gleich mit der richtigen Grundstimmung zu versehen, wird die große Marketing- und PR-Maschine angeworfen: Zeitungswerbung, Radio-, Kino- und TV-Spots, Werbemittel für den Point of Sale, Probefahrtaktionen, Pressefahrzeuge für Tests in Autozeitschriften, Aktionen bei Autovermietern und Leasinggesellschaften (um schnell relevante Mengen in den Markt zu bekommen), manchmal auch Sponsoring großer Events, bei denen Marke und Fahrzeuge stets im Blickpunkt stehen. Das ist der „Stimulus“, also das Aussenden eines Reizes, der bei den anvisierten Zielgruppen die Will-haben-Reaktion auslösen soll.

Sofern sich die Zielgruppen davon angesprochen fühlten, führt ihr Weg aber nicht mehr wie früher zum nächstgelegenen Vertragshändler der Marke. Bevor das Internet seine Wirkung entfaltete, war er der erste Ansprechpartner und erlebte folgerichtig den ersten Moment der Wahrheit. Was nichts weiter bedeutet, den „infiltrierten“ Interessenten zum zahlenden Kunden zu machen. Da der Händler quasi die einzige Quelle für weitergehende Informationen war, besaß er eine Art von Herrschaftswissen, das ihn gegenüber dem Kunden eindeutig zur Person am längeren Hebel werden ließ. Bei Geschäftserfolg begann dann das, was im Fussball gern als „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ gewertet wird. Das ist nichts weiter als der „Zweite Moment der Wahrheit“. Denn nun galt es, den Kunden zu betreuen, mit ihm in Kontakt zu bleiben, die Wartungen und Reparaturen gut zu machen. Alles mit dem Ziel, dass dieser Kunde sein nächstes Fahrzeug wieder bei diesem Autohaus kauft. Aber wie schon im ersten Satz dieses Absatzes erwähnt: Das war mal.

Brian Solis The Ultimate Moment of Truth Der ultimative Moment der Wahrheit

Was hat sich durch das Internet verändert?

Abgesehen davon, dass der Stimulus sowie der Erste und der Zweite Moment der Wahrheit nach wie vor existieren, gibt es zwei entscheidende Änderungen, die die bislang geltenden Spielregeln außer Kraft setzen. Zwischen Stimulus und Ersten Moment der Wahrheit hat sich ein weiterer solcher Moment geschoben: Google nennt ihn „The Zero Moment of Truth“ oder kurz ZMOT. Eine wörtliche Übersetzung fällt schwer („Nullter Moment der Wahrheit“ klingt irgendwie doof), spontan würde ich das mit dem „Initialen Moment der Wahrheit“ beschreiben.

Gemeint ist damit, dass sich angehende Autokäufer heute nach dem Wahrnehmen des Stimulus erst einmal ausführlich im Internet informieren. Dafür lassen sie sich unterschiedlich lang Zeit und gehen verschiedene, teils sehr individuelle Wege. Diesen ZMOT kann ein Autohändler nur bedingt bis gar nicht steuern, denn die Interessenten lesen und diskutieren in Foren und Blogs, bekommen Erfahrungsberichte von dritter Seite, lesen Produkt- und Händlerbewertungen an vielen Stellen im Internet. Sie machen sich ihr eigenes, nahezu gänzlich von Anbietern unbeeinflusstes Bild und kommen erst dann zu einem Autohaus vor Ort, wenn sie sich gut genug informiert und ausgestattet sehen. Das frühere Herrschaftswissen ist damit passé, denn oft sind die Interessenten besser informiert, als die Autohändler. Jay Baer, ein amerikanischer Autor und Redner rund um Marketingthemen, nennt die frühere Beziehung „Anbieter ./. Kunde“ auch gern „Master and Servant“ (Meister und Diener). Die Transparenz und Informationsvielfalt des Internets stellt diese Beziehung heute vom Kopf auf die Füße. Darauf haben sich aber bis heute nur die wenigsten Autohändler eingestellt. In zu vielen Betrieben ist man noch immer der Meinung, den Kunden mit eigenen Mitteln schon steuern zu können.

Die zweite, entscheidende Änderung in der Kette der Momente der Wahrheit tritt nach dem Erleben des Zweiten Momentes ein: Kunden teilen ihre Erlebnisse heute in erster Linie mit ihren „Freunden“ in Sozialen Netzwerken. Dort wird sowohl gelobt, als auch gemeckert. Doch auch das ist durch die Anbieter, sprich die Autohäuser, nicht oder nur eingeschränkt steuerbar. In Umfragen wird uns zwar immer wieder weisgemacht, dass viele Autohäuser in den Sozialen Netzwerken aktiv sind. Doch wer sich mal die Mühe macht und sich diese Aktivitäten genauer ansieht, der wird feststellen, dass nur sehr wenige verstanden haben, worum es dort eigentlich geht. Dabei sein ist hier bei weitem nicht alles.

Was tun, sprach Zeus?

Leider konnte ich am puls Automobilkongress nicht selbst teilnehmen. Aber der o. a. Bemerkung von Hannes Brachat zufolge sind die Themen so nicht angesprochen worden. Das ist traurig, zumal wir hier nicht mehr von Zukunft reden, sondern von der Gegenwart.
Hoffentlich konnte ich hier deutlich machen, dass von vielen Händlern noch enormes Potential verschenkt wird. Denn weder im Internet noch in den Sozialen Medien ist die Breite der Branche angemessen vertreten. Die wenigen, die sich engagieren, reden nicht gern darüber. Das ist verständlich, warum sollten sie andere schlau machen. Insgesamt fehlt es der Branche offenbar am Willen, sich abseits der von den Herstellern gemachten Vorgaben und gegebenen Empfehlungen mit dieser Thematik auseinanderzusetzen und etwas zu tun.
Statt dessen sind die Diskussionsforen bei Autohaus Online und auch sonst prall gefüllt mit vermutlichen Autoverkäufern, die der alten Zeit nachtrauern, die die Kunden nicht ernst nehmen, die Kunden beleidigen, sich über heutige Kunden aufregen und wohl annehmen, dass das alles bald vorüber geht usw. Diese Gedanken- und Hilflosigkeit ist erschreckend, da wäre es schön gewesen, wenn ein solcher Kongress lieber zwei Vorträge weggelassen und dafür solche Themen noch tiefgründiger angegangen wäre. Bitte nicht falsch verstehen, ich bin froh, dass es Veranstaltungen wie die von puls gibt und meine Erfahrungen als Teilnehmer in den Vorjahren sind durchweg positiv. Da ich nicht dabei war, kann ich hier nur mutmaßen.

BTW: In meinem nächsten Blogpost werde ich das Ganze mal an einem gerade selbst erlebten Beispiel behandeln.

Derek Finke